Die Stille hören

Haben Sie schon einmal die Stille gehört?

 

Merkwürdige, fast paradoxe Frage, mag man sich jetzt vielleicht denken, aber ich glaube wirklich, dass man die Stille hören kann: Innerlich und Äußerlich.

Im vergangenen Jahr hab ich mit einem Freund die Benediktenwand bestiegen. Es war Mitte Februar; nicht die beste Zeit zum Bergsteigen. Immer wieder stürzten wir unterwegs ein – Tiefschnee. Das Gehen war mühsam und wir kamen nur langsam voran. So haben wir es auch nicht mehr rechtzeitig vor Anbruch der Dunkelheit nach unten geschafft und mussten den Abstieg mit Stirnlampen im Mondschein bewältigen. Nach endlosem Gehen blieben wir einmal mitten im Wald stehen und dort hörte ich sie: die Stille. Kein Autobahnrauschen, kein Ticken einer Uhr, kein Vogelgezwitscher – NICHTS. Man hörte die absolute Stille. Momente, die man wohl nur mitten im Nirgendwo erfahren kann.

 

Ich bin nicht der einzige Mensch, der die Stille hörte. Henri Nouwen hörte sie auch, so heißt zumindest sein gleichnamiges Buch und ich glaube er hörte noch viel tiefer. 7 Monate verbrachte er in einem Trappistenkloster und dokumentierte seine innere Reise in einem Tagebuch, das später als Buch veröffentlicht wurde. Wenn man die Stille hört, dann begegnet man sich selbst. Oft erkenne ich mich selbst in seinen Gedanken wieder. So beschreibt er nach ca. einem Monat im Schweigekloster von seinem Erschöpfungsgefühl, seiner Reizbarkeit, Frustration und Niedergeschlagenheit. Sein Begleiter „antwortete sehr sympathisch. Zunächst einmal erklärte er mir, dass dies vorauszusehen war. Er sagte, dass er selbst ein ganzes Jahr gebraucht habe, um sich an das frühe Aufstehen zu gewöhnen, und dass körperliche Arbeit, der Verzicht auf Fleisch und andere Umstellungen im Lebensstil zu Müdigkeit, Depressionen, psychosomatischen Beschwerden und Zweifeln über die Berufung führen können, wenn die Anfangsbegeisterung verschwunden ist.“[1]

All dies kann ich nach einem Jahr im Kloster gut nachfühlen - nicht in dieser Intensität, aber ja, diese Momente gibt es.

Das Wichtigste folgt aber noch: „Von da an, wo das monastische Leben nichts Neues mehr bringt, wo die Umgebung einem keine besondere Aufmerksamkeit mehr schenkt und einem nichts Interessantes mehr in Beschlag nimmt, wird dieses monastische Leben schwierig. Dann tut sich der Raum für Gebet und Askese auf. [2]

 

Und dann kommt er am 12. Juli zu der Erkenntnis:

„Wenn du weiterhin begierig zum Postfach gehst, in der Hoffnung, dass irgendeiner da draußen an dich gedacht hat; wenn du dich immer noch fragst, ob deine Freunde an dich denken und was sie von dir denken; wenn du weiterhin den heimlichen Wunsch hast, irgendwie eine außergewöhnliche Person dieser Kommunität zu sein […] wenn du dir immer noch interessantere Arbeit und mehr unterhaltsame Ereignisse erhoffst – dann weißt du, dass du noch nicht einmal angefangen hast, für Gott ein wenig Raum in deinem Herzen zu schaffen.

Wenn dir niemand mehr schreibt; wenn kaum mehr einer auch nur an dich denkt oder sich fragt, wie es dir wohl geht; wenn du nur noch einer der Brüder bist und dieselben Dinge tust wie sie, nicht besser und nicht schlechter […] – vielleicht sind dann dein Herz und dein Geist leer genug geworden, um Gott eine echte Möglichkeit zu bieten, dir seine Gegenwart kundzutun.“ [3]

 

Zugegebenermaßen klingt das auch für mich ziemlich steil – schließlich ist es ja mit Recht ein Grundbedürfnis des Menschen geliebt und gebraucht zu sein. Die Kernaussage aber, dass wir uns mit allem Möglichen ablenken und mit allem Möglichen um uns kreisen, ist durchaus etwas Abzugewinnen. Ich glaube solche Erkenntnisse kann man nur in der Stille haben, dort wo NICHTS mehr ist, wo ich ansatzweise mich selbst und meine kleine Welt vergessen kann, wo nur noch "Ich und Gott" bleibt. Liest man solche Erfahrungen mit der Stille mag man vielleicht auch denken, dass man sich ihr lieber nicht aussetzen will. Sie scheint ja doch irgendwie gefährlich. Ich denke, in den Erfahrungen Nouwens kommt zum Vorschein, was Jesus einst sagte: „Die Wahrheit wird euch frei machen.“ (Joh 8,32).

In der Stille begegnen wir der Wahrheit; der Wahrheit über uns, über unsere Grenzen und Bedürftigkeit, aber auch der Wahrheit, die Gott selbst ist, und die sich in all dem Bahn brechen will.

  

Sr. M. Clarita

 



[1] Henri J.M. Nouwen, Ich hörte auf die Stille. Sieben Monate im Trappistenkloster, Freiburg 182001, S. 68.

[2] Ebd., S. 69.

[3] Ebd., S. 75.

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Kommentare: 4
  • #1

    Sr. M. Scholastika Jurt (Donnerstag, 12 Oktober 2023 15:27)

    So gut, Danke liebe Schwester M. Clarita

  • #2

    Gracia (Samstag, 14 Oktober 2023 22:48)

    Eben hörte ich einen Vortrag über die Liebe. Dieser Vortrag fiel mir zu Ihren Zeilen ein, liebe Sr. Clarita: Jede(r) sehnt sich nach Liebe - und füllt dieses Loch anders aus. Sei es mit Respekt, den er sich verschafft. Mit Rückzug, um endlich entdeckt zu werden. Mit Hilfsbereitschaft, um gegebene Liebe wieder zu empfangen. Mit einer fröhlichen Rolle, die wir als allzeit Beliebte dafür spielen und und und ...

    Gottes Liebe, ausgegossen in unser Herz, kann dem allem gefährlich werden. Da kann das Leben zu bröckeln beginnen ...

    Empfohlen wurde ein Tagesrückblick mit der Frage. "Wo zeigte sich heute Gottes Liebe in meinem Alltag?"

    Und vielleicht lege ich dann Stück für Stück, reich beschenkt, die selbst gezimmerte Liebe aus der Hand. Still und leise.

  • #3

    Jürgen Hadem (Dienstag, 17 Oktober 2023 09:51)

    Wunderbar beschrieben Sr. Clarita!!!

    "Wenn dein Mund still ist spricht dein Herz. Wenn dein Herz still ist spricht Gott."

    Ich weiß nicht mehr wo mir diese Worte "begegnet" sind, aber die Zeilen waren sofort wieder präsent als ich ihren Beitrag gelesen habe.

  • #4

    3:1 (Dienstag, 14 November 2023 12:43)

    somit wäre der blog ja schon beendet? oder warum nicht?