Der Papst meiner Kindheit

Als wir als Familie am 19. April 2005 gebannt vor dem Fernseher auf den ersten öffentlichen Auftritt des neuen Papstes warteten, sprang ich in der ganzen Aufregung plötzlich auf, um mir diesen Namen zu notieren. Ich wollte ihn nicht vergessen, noch nicht ahnend, was wir mir dieser Mann einmal bedeuten würde.

 

18 Jahre später knie ich als Novizin ergriffen und den Tränen nahe vor dem Grab jenes großen Mannes, dessen bürgerlichen Namen ich mir als 7-jährige auf einen Zettel geschrieben habe: Joseph Ratzinger.

 

Leider spalten sich an ihm die Gemüter. Für die einen ist der starke „Verteidiger des Glaubens“, für die anderen Sinnbild einer rückständigen, erzkonservativen und lebensfernen Kirche, oder wie der Spiegel ihn betitelte „der mächtigste Widersacher aller reformfreudigen Katholiken“ [1], am liebsten verdeutlicht am Tragen des Kamauro, der Hermelinmütze.

 

Ja, ich gebe zu, natürlich stand Benedikt XVI. für einen traditionellen Glauben, aber auch ein Joseph Ratzinger hat eine Geschichte. Zum Beispiel scheint zunehmend in Vergessenheit zu geraten, dass er als junger, hoffnungsvoller 35-jähriger Theologe am Zweiten Vatikanischen Konzil teilnahm und am Abend des Konzils den Auftaktvortrag hielt. Theologe Jan-Heiner Tück beschreibt diesen als „ein Votum für mehr Pluralität innerhalb der einen katholischen Weltkirche, […] um eine verkrustete nachtridentinisch enggeführte Traditionsgestalt aufzubrechen.“[2] Während des Konzils trat Ratzinger zusammen mit Karl Rahner, Hans Küng und Johann Baptist Metz als Reformer auf, etwa indem er für die Abschaffung der lateinischen Messe plädierte.

Oder wie er die Studenten in Tübingen mit seiner Vorlesung „Einführung in das Christentum“ in den Bann zog, weil er sich wirklich den Fragen der Zeit stellte. „Man kann versuchen, mit Problemen fertig zu werden, indem man sie einfach negiert oder indem man sich ihnen stellt. Der eine Weg ist bequemer aber nur der zweite führt weiter.“[3]

Das ist Joseph Ratzinger.

 

Im Theologiestudium begegnete mir Ratzinger nur mäßig und eher als Beispiel für einen allzu konservativen Glauben. In meinem Auslandssemester in Irland ein ganz anderes Bild. Da sollten wir in Dogmatik seinen ersten Band von „Jesus von Nazareth“ lesen und dazu eine Rezension schreiben. Ich gebe zu, auch das entspricht nicht ganz dem wissenschaftlichen Niveau und der intellektuellen Auseinandersetzung, aber immerhin haben ihn mal in original gelesen statt immer nur über ihn zu Hören, wie rückständig er doch sei.

 

Letztlich steht Joseph Ratzinger für mich zusammen mit Karl Rahner für einen der bedeutendsten Theologen des 20. Jhds. Ich bewundere, wie er den Fragen auf den Grund ging und bis zum Schluss dem Geheimnis Gottes ganz weiten Raum gab. Er litt nicht an dieser Theologen-Krankheit, die Gott mal eben auf dem Seziertisch auseinander nimmt. Karl Rahner sprach sechs Wochen vor seinem eigenen Tod genau über dieses Problem der Theologie:

 

„Im praktischen Betrieb der Theologie vergessen wir das immer wieder. Wir reden von Gott, von seiner Existenz, […] von drei Personen in Gott […] und so fort. […] Aber bei diesem Reden vergessen wir dann meistens, dass eine solche Zusage immer nur dann einigermaßen legitim von Gott ausgesagt werden kann, wenn wir sie gleichzeitig auch immer wieder zurücknehmen. Die unheimliche Schwebe zwischen Ja und Nein als den wahren und einzig festen Punkt unserer Erkenntnis aushalten und so unserer Aussagen immer auch wieder hineinfallen lassen in die schweigende Unbegreiflichkeit Gottes selber.“[4]

 

Am meisten berührt, als ich an seinem Grab war, hat mich, dass jener große Christ, Theologe und Papst nun IHN sehen darf, über den er ein ganzes Lebens lang nachgedacht, geschrieben und mit dem er gelebt hat und nach dem er sich gesehnt hat.

Und wenn ich seine Worte über den Tod lese, dann freue ich mich, dass er nun ihn schauen darf, den er ein Leben lang gesucht hat.

„In der Tat - eines ist gewiss: Es gibt eine Nacht, in deren Verlassenheit keine Stimmte hinabreicht; es gibt eine Tür, durch die wir nur einsam schreiten können: das Tor des Todes. Alle Furcht der Welt ist im Letzen die Furcht dieser Einsamkeit. […] Der Tod ist die Einsamkeit schlechthin. Jene Einsamkeit aber, in die die Liebe nicht mehr vordringen kann, ist die Hölle. Damit sind wir wieder beim unserem Ausgangspunkt angekommen, beim Glaubensartikel vom Abstieg in die Hölle. Dieser besagt, dass Christus das Tor unserer letzten Einsamkeit durchschritten hat [...]. Wo uns keine Stimme mehr erreichen kann, da ist Er. Damit ist die Hölle überwunden, oder genauer: Der Tod, der vordem die Hölle war, ist es nicht mehr. Beides ist nicht mehr das Gleiche, weil mitten im Tod Leben ist, weil die Liebe mitten in ihm wohnt. […] Das Sterben aber ist kein Weg in die eisige Einsamkeit, die Pforten der Scheol sind geöffnet.“[5]

 

Wenn ich solche Zeilen lese, dann freue ich mich, dass Joseph Ratzinger ihn nun ihn sehen darf, jenen Gott, der immer Geheimnis bleibt, jenes Geheimnis, das er verkündigt und bezeugt hat, jenes DU, das auf ihn gewartet hat.

 

RIP Joseph Ratzinger

+ 31.12.2022

 

 

Sr. M. Clarita 



[1] 50 Jahre Vatikanisches Konzil: Der Wandel des Joseph Ratzinger - DER SPIEGEL (Abrufdatum: 05.12.2023)

[2] (735) Der Unbequeme - Joseph Ratzinger, der Glaube und die Welt von heute - YouTube, Min 6:11 (Abrufdatum: 05.12.2023)

[3] Joseph Ratzinger, Einführung in das Christentum, Augsburg 2007, S. 277.

[4] (735) Karl Rahner "Erfahrungen eines katholischen Theologen" (1984) - YouTube , Min 8:15 (Abrufdatum: 05.12.2023) Später fügt er selbstkritisch hinzu: „Ich möchte nur bekennen, dass ich als einzelner armer Theologe bei aller meiner Theologie zu wenig an diese Analogheit aller meiner Aussagen denke.“

[5] Ratzinger, Einführung in das Christentum, S.283.

Kommentar schreiben

Kommentare: 1
  • #1

    3:1 (Freitag, 08 Dezember 2023 17:48)

    Gemeinschaft des Glaubens, so einfach, so schwer. Mehr wie statt wo..finden wir Frieden, Freude und Freiheit? ;)