Über den Sinn und Unsinn von Regeln

In jener Zeit hielten sich die Pharisäer und einige Schriftgelehrte, die aus Jerusalem gekommen waren, bei Jesus auf. Sie sahen, dass einige seiner Jünger ihr Brot mit unreinen, das heißt mit ungewaschenen Händen aßen. Die Pharisäer essen nämlich wie alle Juden nur, wenn sie vorher mit einer Hand voll Wasser die Hände gewaschen haben, wie es die Überlieferung der Alten vorschreibt. Auch wenn sie vom Markt kommen, essen sie nicht, ohne sich vorher zu waschen. Noch viele andere überlieferte Vorschriften halten sie ein, wie das Abspülen von Bechern, Krügen und Kesseln. Die Pharisäer und die Schriftgelehrten fragten ihn also: Warum halten sich deine Jünger nicht an die Überlieferung der Alten, sondern essen ihr Brot mit unreinen Händen? Er antwortete ihnen: Der Prophet Jesaja hatte Recht mit dem, was er über euch Heuchler sagte: Dieses Volk ehrt mich mit den Lippen, sein Herz aber ist weit weg von mir. Es ist sinnlos, wie sie mich verehren; was sie lehren, sind Satzungen von Menschen. Ihr gebt Gottes Gebot preis und haltet euch an die Überlieferung der Menschen. Und weiter sagte Jesus: Sehr geschickt setzt ihr Gottes Gebot außer Kraft und haltet euch an eure eigene Überlieferung. Mose hat zum Beispiel gesagt: Ehre deinen Vater und deine Mutter!, und: Wer Vater oder Mutter verflucht, soll mit dem Tod bestraft werden. Ihr aber lehrt: Es ist erlaubt, dass einer zu seinem Vater oder seiner Mutter sagt: Was ich dir schulde, ist Korbán, das heißt: eine Opfergabe. Damit hindert ihr ihn daran, noch etwas für Vater oder Mutter zu tun. So setzt ihr durch eure eigene Überlieferung Gottes Wort außer Kraft. Und ähnlich handelt ihr in vielen Fällen.

(Mk 7, 1-13)

 

Mit Regeln ist das so eine Sache: Die einen lieben sie, die anderen hassen sie. Die einen bestehen vehement auf ihrer Einhaltung, andere ergreifen jede sich bietende Gelegenheit, um gegen sie zu rebellieren, sie aufzubrechen. Wir Deutschen gelten allerdings nicht als besonders rebellisch, im Gegenteil. Im Ausland werden wir für unseren Perfektionismus und unsere Regeltreue gerne belächelt. Oft zitiertes Beispiel: die berühmte rote Ampel. Menschen anderer Nationen und Kulturen wundern sich, warum wir Deutschen an einer roten Ampel stehenbleiben, auch dann, wenn weit und breit kein Auto in Sicht ist. Man kann dieses Verhalten, diese übertriebene „Gesetzestreue“, für Kleinkariertheit halten oder nicht. Auf jedem Fall bietet sie Anlass zu Verwunderung.

Klar ist jedoch: Überall dort, wo Menschen zusammenleben, braucht es Regeln. Und Gebote. Als Gott das Volk Israel aus Ägypten heraus in die Freiheit führt, gibt er ihm die zehn Gebote mit. Quasi als Anleitung für gelingendes Leben. Die zehn Gebote sind sozusagen die Minimalanforderungen, um gesellschaftliches Leben so zu gestalten, dass es gelingen kann. 

Das Gebot der Pharisäer im heutigen Evangelium kommt erst einmal ziemlich lebensnah und pragmatisch daher. Es scheint direkt aus dem Alltag gegriffen. Und löst ihn mir eigentlich auch keinen Widerspruch aus. Haben wir nicht alle als Kinder gelernt, dass wir uns vor dem Essen die Hände waschen sollen? Und ist es heute nicht aktueller denn je? Jetzt, das heißt in Zeiten von Corona, wo jede Hygienemaßnahme zählt? Warum also hat Jesus damit ein Problem? Was soll an diesem Gebot der Pharisäer falsch sein? Mir jedenfalls leuchtet es durchaus ein. Auch würde ich aus dem Stehgreif nicht dafür plädieren, bei Rot einfach über die Ampel zu gehen.

Jesus selbst erklärt uns, weshalb er daran Anstoß nimmt: Bei einem Gesetz wie diesem handele es sich nicht um ein Gebot Gottes, sondern um die Satzungen von Menschen, so zitiert er den Propheten Jesaja. Weiter heißt es: „Dieses Volk ehrt mich mit den Lippen, sein Herz aber ist weit weg von mir.“ Die „Satzungen von Menschen“, das sind also praktische Regelwerke, wie wir sie aus dem Alltag kennen: Geh nicht bei Rot über die Ampel! Wasch deine Hände vor dem Essen! An sich nichts Schlechtes.

Worin jedoch die Kritik besteht, wird mir klar, wenn ich darüber nachdenke, wie wir im Alltag über den Sinn und Unsinn von Regeln und Geboten debattieren. Diejenigen, die eine Regel brechen, argumentieren gerne damit, für wie unsinnig sie besagte Regel halten. Warum soll ich dieses oder jenes tun, wenn ich keinen Sinn dahinter erkenne? Warum soll ich dieses oder jenes lassen? Warum soll ich nicht bei Rot über die Ampel gehen, wenn doch kein Auto in der Nähe ist? Warum soll ich mir vor dem Essen die Hände waschen? 

Wirklich fruchtbar wird eine Diskussion über Gebote dabei nur dann, wenn man nicht die Regel selbst, sondern den Wert hinter der Regel diskutiert: Ich soll nicht bei Rot über die Ampel gehen, damit ich nicht von einem Auto überfahren werde. Unsinnig ist diese Regel jedoch, wenn gar kein Auto vorüberfährt. Ich soll mein Brot nicht mit unreinen Händen essen, weil ich sonst vielleicht krank werden könnte. Unsinnig ist diese Regel jedoch dann, wenn meine Hände gar nicht schmutzig sind. Noch einmal: Regeln machen nur dann Sinn, wenn ich auf das schaue, was sich hinter ihnen verbirgt. 

Umgekehrt bedeutet dies: Der Sinn oder Wert hinter einer Regel ist, auf was es sich eigentlich auszurichten gilt. Regeln, die herausgerissen werden aus ihrem Kontext und ein gewisses Eigenleben entwickeln, sind unsinnig. Gott jedoch interessiert nicht das, was auf unseren Lippen, sondern was in unserem Herzen ist. Wenn unsere Haltung, unsere Werte stimmen, dann leiten sich die Lebensregeln und Gebote ganz automatisch von dieser Haltung ab. 

Eine andere Bibelstelle fällt mir dazu ein: Als die Pharisäer Jesus auf die Probe stellen wollen und ihn fragen, welches Gebot im Gesetz das wichtigste sei, da antwortet er: 

„Du sollst den Herrn, deinen Gott, lieben mit ganzem Herzen, mit ganzer Seele und mit all deinen Gedanken. Das ist das wichtigste und erste Gebot. Ebenso wichtig ist das zweite: Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst. An diesen beiden Geboten hängt das ganze Gesetz samt den Propheten“ (Mt 22, 37-40).

Unsere Liebe zu Gott und zu anderen Menschen, das ist also das, was Gott wirklich interessiert. Unsere Haltung ist es, die er verändern möchte. Tag für Tag. Und aus eben jenen Geboten sollte sich unser ganzes Handeln, sollten sich alle unsere Regeln und Gesetze für den Alltag ableiten. 

 

Sr. M. Kathrin Schäfer