„Jetzt musst du noch einmal die Kälte genießen…“ – etwas wehmütig ging ich am späten Abend des 10. Januar noch ein letztes Mal durch unseren dunklen Klostergarten. Ziemlich genau 36 Stunden später würden uns in Santa Cruz 38° C. und 100% Luftfeuchtigkeit erwarten – darin waren sich alle Wettervorhersagen einig, und auch unsere Mitschwestern vor Ort warnten vor einem unerträglichen Klima in der Stadt. Ich gestehe, meine Vorfreude hielt sich in diesem Moment sehr in Grenzen, schwüle Hitze zählt zu den Wetterlagen, auf die mein Körper in der Regel wahlweise mit Migräneattacken oder massiven Kreislaufproblemen reagiert. Und trotzdem hatte mich die Abenteuerlust gepackt und ich war sehr gespannt, zum
ersten Mal in meinem Leben in eine mir fremde Kultur eintauchen zu dürfen. Mein erstes Mal in Bolivien, meine erste Reise in das Land, über das ich in den letzten Jahren schon so viel gehört
hatte, gleichzeitig auch meine erste Reise nach Südamerika!
Die Spannung hätte nicht größer sein können, als wir am darauffolgenden Abend in Madrid das Flugzeug bestiegen, um knappe 11 Stunden später in Santa Cruz zu landen. Und die erste Überraschung kam
schon beim Aussteigen aus dem Flugzeug – es schüttete aus Kübeln, wodurch die Hitzewelle der vergangenen Tage gebrochen war. Und warum Regen gerne mal als „Segen von oben“ bezeichnet wird, konnte
ich in den darauffolgenden drei Wochen erleben: Tatsächlich kam es mir vor, als hätte unsere ganze Reise unter einem besonderen Segen gestanden! Um ehrlich zu sein: wenn es eines gab, womit
ich in Bolivien fest rechnete, dann war es die Tatsache, dass während unseres Aufenthaltes sicherlich nicht alles glatt gehen würde. Nach allem, was ich bis jetzt von diesem Land gehört hatte,
würde es sicherlich hier oder dort unerwartete Behinderungen geben: Schwierigkeiten bei der Ein- oder Ausreise, überflutete Straßen, große Verspätungen auf den Flughäfen, unvorhergesehene
Blockaden, Magen-Darm-Beschwerden, möglicherweise sogar Raubüberfälle, extreme Wetterlagen, Erdrutsche… Kurzum, ich machte mich so ziemlich auf alles gefasst, nur nicht auf die Tatsache, dass wir
in Sachen Unannehmlichkeiten komplett ungeschoren davonkommen würden. Doch genau dies war der Fall, und für mich persönlich ist es ein kleines Wunder, dass ich mich in diesem mir so fremden Land
spontan derart wohl und geborgen gefühlt habe.
Angst hatte ich nur einen winzigen Augenblick lang, als wir am ersten Abend in Comarapa eine (für mich) riesige schwarze Spinne auf dem schwarzen Boden in Richtung unserer Schlafzimmer flitzen
sahen. Da war ich sehr dankbar, dass die furchtlos tapfere Sr. M. Scholastika das ungeliebte Vieh mit Hilfe eines Besens wieder ins Freie scheuchte. Nachdem die Schwestern uns am kommenden Tag
dann glaubhaft versicherten, dass es in Comarapa eigentlich gar keine großen und gefährlichen Spinnen gäbe, wurden dann für den Rest des Aufenthaltes auch keine weiteren Wesen dieser Art mehr
gesichtet ;-)
Bolivien ist ein Land der Extreme, jedenfalls war das mein erster Eindruck. Auf der einen Seite überwältigend schöne Landschaften, auf der anderen Seite Menschen, die in unvorstellbarem Elend leben und im Müll nach Essen suchen. Am krassesten empfand ich dies während eines Besuches in einem kleinen Dorf in der Nähe von Saipina. Wir besuchten dort arme Familien, trafen auf Kinder, welche deutliche Anzeichen einer Mangelernährung aufwiesen und in der Nacht zu acht auf zwei Matrazen schlafen mussten, während ein paar Meter weiter der große Garten eines Obstbauern lag, mit dessen Früchten man wahrscheinlich ganz Koblenz wochenlang hätte versorgen können. Diese Situation ist für mich ein Bild für die Frage, die mich seit meinem Aufenthalt noch viel mehr schmerzt als früher, und sich nicht nur auf Bolivien, sondern auf die ganze Welt bezieht: Wenn doch mehr als genug für alle da ist, warum schaffen wir Menschen es nicht, die Güter so zu verteilen, dass jeder das bekommt, was er braucht? Und wo ich gerade bei krassen Gegensätzen bin – ich fand es extrem beeindruckend, wie herzlich und unkompliziert wir selbst in der kleinsten Hütte empfangen wurden, und vor allem, welches Strahlen ich in vielen Gesichtern wahrgenommen habe. Damit will ich keineswegs die Armut der Menschen relativieren oder verharmlosen, aber wenn man mal erlebt hat, wie sehr sich eine Familie über neue Matratzen freut, die vorher auf dem blanken Lattenrost schlafen musste, dann macht das schon sehr sehr nachdenklich. Nun bin ich schon fast 14 Tage wieder zurück in der Kälte Deutschlands, aber in meinem Herzen ist es immer noch warm. Ich denke an zahllose liebevolle Umarmungen (abrazos) mit mir unbekannten Menschen, an ca. 3jährige Kinder, die mir auf der Straße ein fröhliches „Hola hermanita“ („Hallo Schwesterchen“) zuriefen, obwohl ich mehr als doppelt so groß war wie sie, und ich spüre gleichzeitig, was mir hier in der Heimat zuweilen schmerzlich fehlt: weniger die warmen Außentemperaturen als vielmehr die arglose zwischenmenschliche Herzenswärme, die man in unseren Breiten leider oft vergeblich sucht. Für manch einen, der Bolivien mit seinen vielen ungelösten Problemen viel besser kennt als ich, mag sich das alles vielleicht ein wenig naiv und blauäugig anhören. Natürlich ist auch mir nicht entgangen, dass fast überall irgendwo der Schuh drückt, aber dennoch haben mich das Land und seine Bewohner deutlich mehr fasziniert als schockiert. Leben kann auch ganz anders funktionieren als bei uns in Deutschland, dies wurde mir u.a. deutlich bewusst, als ich mit einem breiten Lächeln im Gesicht auf der Ladefläche unserer „camioneta“ auf unasphaltierten Wegen durch eine atemberaubende Natur bretterte. Und auch die Erfahrung, sich mit acht Schwestern in einen normalen PKW zu quetschen, war für mich bis dato neu, zählt aber zu den Dingen, die man unbedingt im Leben mal gemacht haben sollte. Die Bolivianer sind „cariñosos“, so habe ich es einige Male gehört. Es ist bezeichnend, dass es gleich mehrere deutsche Worte braucht, um das richtig zu übersetzen: „liebevoll, anhänglich, zärtlich, fürsorglich, warmherzig, liebend“. Und auch wenn uns nun wieder mehr als 10000 Kilometer und ein ganzer Ozean voneinander trennen, den festen Platz in meinem Herzen, den haben sie sich im Sturm erobert!
…es berichtete die ziemlich begeisterte:
Hna M. Ursula